Vorwort

 

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

 

Den Titel: "Von Einer, die auszog das Fürchten zu verlernen", wählte ich, weil ich in der Vergangenheit große Ängste hatte. Ich litt an Depressionen und begab mich in Behandlung. Freunde und Bekannte waren erstaunt: "Du hast Depressionen? Du bist doch immer so fröhlich." Das war ich auch. Aber diese Fröhlichkeit konnte sich wie auf Knopfdruck in tiefe Traurigkeit verwandeln.

Ich begann zu schreiben (seit 2003 auch in der Schreibwerkstatt Bremen-Nord) und lernte mich so besser kennen.

Hiermit möchte ich vermitteln, wie ich im Lauf der Jahre wieder Lebensfreude gewann, was meine chronologisch angeordneten Texte deutlich wiedergeben:

Zuerst befand ich mich in einem Zustand der Aussichtslosigkeit. In meinem Gedicht "Angst" finde ich schon ein Loch, durch das ich einen noch sehr beschränkten Ausblick habe.

Im späteren Gedicht "Hoffnung" scheine ich mich in einer Blase zu befinden. Ich kann mir hier schon einen Rundumblick verschaffen, der aber noch sehr verschwommen ist. Er lässt aber schon Einiges erahnen.

Heute sehe ich mich auf einem Balkon stehend. Ich habe eine klare Sicht und entscheide immer neu, ob ich hinausstrebe oder mich in mein Kämmerlein verkrieche.

 

Mein erster Beitrag: "Schreiben statt Denken" beschreibt den Moment, als ich ein Gedicht nicht mehr erdachte, sondern es mir aus meinem Unterbewusstsein aufgedrängt wurde.

 

Ich muss inzwischen nicht mehr nur an Reimen festhalten, sondern wage mich auch an Kurzgeschichten, deren Thema wir als Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt gewählt haben.

 

Aber lesen Sie doch selbst!

                                                                                                   Schwanewede, 18.04.2017

Schreiben statt Denken

 

Ich reimte schon von Jugend an,

weiß nicht, wann es einst begann.

Wollte Freunde glücklich machen,

brachte dankbar sie zum Lachen.

 

Es waren stets diese Gedichte

der wahrhaften Lebensgeschichte,

der Menschen, die grad Anlass geben

ein Gläschen auf ihr Wohl zu heben.

 

Jahre strichen so ins Land,

mit Reimen, die ich neu erfand.

Die ich brachte zu Gehör

zwischen Hauptgang und Dessert.

 

Mein Hirn hat froh hervor gebracht,

worüber man als Gast gern lacht.

Der Autor hinter meiner Stirn

war einzig und allein mein Hirn.

 

Ich bin immer voller Gedanken. NIE könnte ich auf die Frage:

"Woran denkst du gerade?" mit: "An Nichts!" antworten. Um

mich von den vielen Impulsen abzulenken, lege ich mir gerne

Patienten. Sie erfordern meine volle Aufmerksamkeit. Ich tat

dies auch 1993. Doch plötzlich schossen mir ständig Reime

durch den Kopf. Ich verstand nicht, was da in ihm los war??!!

Zu Ende, von vorne … es hörte nicht auf.

Ich ging unter die Dusche, um sie los zu werden, aber

das Gegenteil geschah. Mir war, als würde der Duschkopf

kein Wasser, sondern Verse speien.

Ich gab auf und schrieb nieder ohne den Stift einmal abzusetzen,

als wenn jemand diktierte. Dann war Ruhe. Endlich!

Ich schaute verwundert auf das beschriftete Papier, las was dort stand

und war begeistert: Genauso fühlt sich Angst an!

Ich hatte den Eindruck, ein Buch aufgeschlagen zu haben

und auf dieses Gedicht gestoßen zu sein.

Hatte ich es selbst wirklich selbst erdacht?

Es ging um Angst. Ich hatte damals Angst.

 

Nein, ich habe nicht erdacht,

ich habe nur hervorgebracht,

was ich früh lernte zu verstecken

um nirgendwo mehr anzuecken.

 

Ich hab' mich vor mir selbst versteckt,

und mich nun wieder neu entdeckt.

Erfuhr, in Vers und Reim gelenkt,

wie mein Unbewusstes denkt.

 

Hab' ich heute Depression,

denk' ich mir: dich kenn ich schon!

Ich hab' mich nur in mir verborgen,

komme wieder, vielleicht morgen?

 

Hab' mich ins Versteck getraut,

habe nur mal nachgeschaut

und ich komm so froh zurück,

denn ich find' ein Stückchen Glück.

 

                                                                       Gabriele Stein 

 

Aus dem Unterbewussten

 

Angst

 

Die Angst, sich steckt fest in mir drin.

Ich will sie nicht, ich schau nicht hin.

Möchte gern lachen, fröhlich sein,

doch stellt die Angst sich ein.

 

Ich möchte gern in die Natur zurück,

möchte empfinden, dieses Glück.

Voll sein, von kindlicher Freude,

raus aus diesem finsteren Leide.

 

Doch da steht die Angst...hält die Tür verschlossen,

hat die Fenster mit schwarzer Farbe begossen.

Hält stets Wache, lässt mich nicht sehen,

ich möchte doch gerne das Leben verstehen.

 

Ich will resignieren...kann nicht mehr...und doch,

ist da nicht ein kleines Loch?

Ich schaue hindurch, sehe die Welt;

möchte gern zu ihr, weil sie mir gefällt.

 

Möchte dabei sein, lieb sein und gut,

spüre in mir plötzlich Mut.

So öffnet sich die kleine Lücke...

lässt mich durch...ist's List? Ist's Tücke?

 

Erwartungsvoll, auch etwas scheu,

geh ich los! Mut bleib mir treu!!!

Ich stelle fest, mit kindlichem Staunen,

es ist in mir ein leises Raunen.

 

Es erzählt mir viel Schönes, in mir wird's warm;

bin plötzlich glücklich, war gestern noch arm.

Jetzt spür' ich es endlich und möchte es halten,

nie mehr zurück, nie mehr erkalten.

 

Weiter so froh sein, weiter vertrauen.

Doch es holt mich zurück, das entsetzliche Grauen.

Ich kämpfe und schreie: "So lass mich doch los!"

Dann zerstör ich mir alles, was eben noch groß.

                                                                                                     

                                                                                                          Gabriele Stein

 

 

Grenzgänger

 

Herr Anton lebt nahe der Landesgrenze, die von einem Fluss gebildet wird. Die Brücke, die von einem Land ins andere führt, ist häufig Ziel seiner täglichen Spaziergänge. An Sommerabenden nimmt er sich Zeit hier zu verweilen. Er schaut ins Wasser und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Der Fluss nimmt sie auf und trägt sie weiter.

 

Herr Anton geht immer nur bis zur Brückenmitte. Nicht einen Schritt weiter! Er ist bereits ein älterer Herr und hatte schon in seiner Kindheit gelernt, dass dort drüben schlechte Menschen leben. Er würde dieses Land niemals betreten! Heute ist ein besonders schöner Abend. Die Sonne senkt sich in dunkelroter Farbenpracht und er freut sich auf die Spiegelungen im Wasser. Er nähert sich bereits der Brücke...und bleibt abrupt stehen.

Er späht geradeaus:

Da ist er wieder! Am Zenit der Brücke steht der Fremde.

Er ist ihm nicht nur fremd, weil er ihn nicht kennt, nein!!! Er ist DER FREMDE!! Einer von der anderen Seite. Er hatte ihn schon häufiger bemerkt. Er geht auch immer nur bis zur Brückenmitte.

 

Herr Anton betrachtet ihn von Weitem und stellt fest: Wieder trägt er eine dunkle Hose, einen ebenso dunklen Wollpullover und diese seltsame Mütze. Er selber bevorzugt Anzüge und Krawatten.

Nun betritt er die Brücke. Er schaut in eine andere Richtung und wechselt auf die gegenüberliegende Seite, um diesen Menschen nicht zu nahe zu kommen. Er lehnt sich über das Geländer und schaut ins Wasser. Auf dieser Seite kann er den Sonnenuntergang nicht so schön bewundern. Er hasst den Fremden, der ihm diesen Ausblick  nimmt. Er bleibt eine Weile dort stehen, ohne sich etwas anmerken zu lassen und stapft dann wütend nach Hause.

 

Herr Bela, der Mann in dunkler Kluft, war auch bereits als Knabe darüber aufgeklärt worden, dass die Menschen auf der anderen Seite ein höchst merkwürdiges Volk seien. Keiner seiner Freunde oder Verwandten war je dort gewesen. Auch er hat sich die Brückenmitte kürzlich als Ziel seiner Spaziergänge ausgewählt. Wenn der seltsame Kauz in seinem Anzug da ist, wechselt er zum gegenüberliegenden Geländer, schaut enspannt dösend in den Fluss und hat den Anderen schnell vergessen.

Heute jedoch will es ihm es ihm nicht so recht gelingen, die Seele einfach baumeln zu lassen. Immer wieder schaut er nach rechts in das fremde Land. Eigentlich ist nichts besonderes erkennbar. Die gleiche Natur hüben wie drüben, aber das besagt ja nichts. Dennoch hörte er nicht mehr nur noch die Stimme seines Volkes, sondern plötzlich auch die Stimme seiner Neugier.

Einige Tage mit ähnlichem Verlauf ziehen sich hin. Sie unterscheiden sich nur darin, dass mal Herr Anton nach Westen blickte und wieder Herr Bela diese Seite erwischte.

Heute aber betreten beide fast gleichzeitig die Brücke und gehen tapfer, in deren Mitte, aufeinander zu. "Welche Seite soll ich nehmen?" fragt sich Herr Anton. "Sicher hat sich der Wollpullover dort drüben den Westen ausgesucht, denn die Sonne verheißt wieder ein beeindruckendes Naturschauspiel."

 

"Sollte ich schneller gehen, um die bessere Seite zu erwischen oder besser gleich klein beigeben?" Vielleicht könnte er so tun, als wolle er ein Schnürband schließen, um so den Wollmenschen die Entscheidung zu überlassen. Aber, der würde sich ja sicher auch die schönere Brückenseite auswählen, so wie der gebaut ist. Und überhaupt, warum trägt der immer diese grässliche Mütze?

Jetzt trennen sie nur noch wenige Meter von dem Punkt, an dem man sich spätestens entscheiden sollte, wenn man nicht in Gefahr laufen wollte, auf der Straßenmitte der Brücke zu gehen. Der Wollmensch lüftet höflich seine Mütze und grüßt freundlich. Herr Anton ist überrascht. Er deutet mit einem verwirrten Nicken einen Gruß an, lehnt sich kurz über dasselbe Geländer wie Herr Bela, gähnt unüberhörbar und begibt sich schnell wieder auf seinen Heimweg. In dieser Nacht kann er lange nicht einschlafen.

 

An den folgenden Abenden gehört ein kurzer Gruß bereits zu ihren Spaziergängen. Sie halten noch einen gewissen Abstand voneinander, benutzen aber dieselbe Brückenseite.

"Schönes Wetter, nicht?" fragt plötzlich Herr Bela. Herr Anton ist erschrocken. Er bringt ein Lächeln zustande und nickt. Er ist verblüfft darüber, in seiner Sprache angesprochen worden zu sein. Überhaupt sieht dieser Herr aus Wolle, aus der Nähe betrachtet, eigentlich ganz menschlich aus. Er wirkt jungenhaft auf ihn, obwohl sie vermutlich ähnlichen Alters sind. Herr Bela freut sich, heute ein Lächeln vom Anzugmenschen erhalten zu haben und beginnt ein kurzes belangloses Gespräch.

 

Im Laufe der Zeit kommen sie sich immer näher. Herr Anton stellt fest, dass er sich schon auf die abendliche Begegnung freut. Herr Bela fragt sich, warum sie sich immer nur auf der Brücke treffen? Inzwischen hat sich eine enge Freundschaft entwickelt. Sie treffen sich auf der Brücke, oder Herr Bela ist Gast bei Herrn Anton. Zu Gegenbesuchen  kommt es nicht. Sie führen anregende Gespräche, lachen von Herzen, spielen ein Partie Schach und können miteinander schweigen.

 

Nun möchte Herr Bela auch mal Herrn Anton bei sich begrüßen. Mehrere Einladungen hat er schon ausgesprochen, aber Herr Anton lacht stets und sagt, dass es doch gut sei, wie es sei.

Aber der Wunsch von Herrn Bela wird immer sehnlichster, doch Herr Anton bleibt standhaft.

Herr Bela gibt seine Versuche auf und wird immer wortkarger. Herr Anton ist traurig. Er vermisst die Fröhlichkeit, das jungenhafte Lachen seines wolligen Kameraden.

Herr Bela würde so gerne seinen Freund mit seiner kleinen Welt vertraut machen, aber Herr Anton kommt nicht.

Gute Zeiten

 

Der alte Wilhelm sitzt wieder in seinem Ohrensessel. Der Geruch aus der Küche sucht sich in seinem Wohnzimmer zusätzlichen Raum. Seine Tochter Helga kocht ihm seine Leibgericht, eine Bohnensuppe. Wilhelm fragt sich, ober er eine Bestel- lung aufgegeben hat. Hatte er einen Tisch bestellt? Dürfen seine Frau und er von der Suppe kosten? Die junge Frau dort in der Küche, kann sie gut kochen? Er sucht durch die offene Tür ihren Blick. Sie empfängt ihn und lächelt. Er empfindet eine leise Freude. Wenn das Küchenpersonal dem Gast zugetan ist, dann wird auch das Essen gut sein. Diese kleine Küchenhil- fe, die ihm da eben zulachte, scheint besonders gut kochen zu können. Er freut sich auf seine Mittagsmahlzeit. Wilhelm setzt sich an seinen Tisch. Er nimmt immer den gleichen Platz ein. Seine Frau ist noch nicht erschienen. Die Tische um ihn herum sind alle besetzt. Nur sein eigener bleibt leer.

 

Er schaut aus dem Fenster zum See. Er ist zugefroren. Seine alten Schlittschuhe auf dem Boden. Passen sie noch? Er gleitet sanft über das Eis. Sein roter Schal, wärmt er? Da hinten war das Eis dünner. Da ist ein Loch.

Er muss weiter wandern. Wo ist das Loch? Der Schlüssel ist da. Passt er in das Loch? Ein Schlüsselloch. Es wächst und wächst und verschlingt ihn. Er schlüpft hindurch und gelangt in einen anderen Raum.

Es ist kalt hier. Seine Frau liegt dort. Ist sie fertig zum Essen angezogen? Sie spricht nicht mit ihm. Sie steht auch nicht auf. Um sie herum die vielen Blumen. Ist sie ins Beet gefallen? Aber sie hat ihr gutes Kostüm an. Ihre Augen sind ge- schlossen. Der Klang der Orgel ist schaurig und schön.

 

Das laute Brummen, vertraute Harmonie. Die Dunstabzugshaube im verzweifelten Versuch, alles zu verschlingen. Aber es gelingt ihr nicht. Der Duft der herzhaften Suppe schleicht sich zu ihm. In den monotonen Gesang fügt sich nun intervallartig der tiefe Bass seines knurrenden Magens. Fortissimo stimmt er freudig mit ein: "Helga, Helga, Helgalein! ICH HABE HUUUUNGER!

 

PAUSE

"Ja, Vater, stelle doch schon mal die Teller hin, die Suppe ist fertig. Helga freut sich. Heute erkennt er mich. Heute ist ein guter Tag."

Text folgt noch: